PROZESSBERICHT TAG DREI

Der dritte Verhandlungstag – Montag, 5. Juni 2023 – war ein kurzer Tag im Prozess. Das Gericht vernahm einen Polizeibeamten und eine Betroffene als Zeug*innen und setzte weitere Verhandlungstage an. Der angeklagte Neonazi zeigt inzwischen Nerven. In diesem Beitrag wird der dritte Verhandlungstag zusammengefasst.

Polizeibeamter wird zu „Z“ an dem Auto des Neonazis vernommen 

Als ersten Zeugen vernimmt das Gericht an diesem Tag einen Polizeibeamten, der im März 2022 bei einer Versammlung des Neonazis Sven Liebich auf dem Marktplatz in Halle (Saale) eingesetzt war. Dort – wirft ihm die Anklage vor – soll Liebich einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gebilligt haben (strafbar nach §§ 140 Nr. 2, 138 Abs. 1 Nr. 5 StGB in Verbindung mit § 13 VStGB), indem er mit Klebestreifen ein „Z“ auf die Seite seines Autos klebte. Die Aussage des Polizeibeamten stimmt mit der seines Kollegen überein, welcher am ersten Prozesstag vernommen worden war (nachzulesen hier). Liebich habe das „Z“ an sein Auto geklebt, auf der anderen Seite sei eine Russlandfahne befestigt gewesen. Danach sei er beiseite getreten. In diesem Moment hätten die Einsatzkräfte das „Z“ sehen können und hätten den Neonazi angesprochen, gemeinsam mit der Versammlungsbehörde. Zunächst habe Liebich angegeben, dass das „Z“ in seinem Firmenlogo vorkomme, dann, dass er gehört habe, es sei in Sachsen-Anhalt nicht verboten. Die erste Erklärung des Neonazis spricht dafür, dass er von der zweiten wusste, dass sie so nicht zutreffend ist. Nach der Ansprache habe der Neonazi weitere Klebebandstreifen angebracht, so dass eine Sanduhr entstanden sei. Aus der Aussage des Zeugen geht auch hervor, dass das „Z“ nicht sehr lange an dem Auto zu sehen gewesen sei, jedoch in der Zeit von den Passantinnen und Passanten auf dem Markt wahrgenommen werden konnte.

Selbstleseverfahren wird angekündigt

Das Gericht kündigt an, dass mehrere Urteile anderer Gerichte im sogenannten Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) in den Prozess eingeführt werden sollen. Das bedeutet, dass sie nicht im Gerichtssaal vorgelesen werden, sondern die Prozessbeteiligten sie schriftlich erhalten und sie selbst lesen können. Im Strafverfahren gilt das Mündlichkeitsprinzip, Gegenstand der Urteilsfindung darf in der Regel nur das sein, was im Verfahren vorgetragen und erörtert wurde. Das Selbstleseverfahren ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz und soll den Prozess schneller und effektiver machen. Die Urteile, die im Selbstleseverfahren eingeführt werden sollen, sind ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten, das den Neonazi wegen Volksverhetzung verurteilt hatte, sowie die Urteile des Amts- und des Landgerichts Halle (Saale) im letzten größeren Verfahren gegen Liebich, in dem er zu zehn Monaten Haft, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung, verurteilt worden war. 

Für das Strafverfahren gilt außerdem der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das Gericht muss sich einen unmittelbaren Eindruck vom Tatgeschehen verschaffen, dazu muss es regelmäßig das tatnächste Beweismittel heranziehen. Die Aussage einer Zeugin oder eines Zeugen darf nicht dadurch ersetzt werden, dass einfach eine frühere Aussage (zum Beispiel bei der Polizei) aus den Akten verlesen wird. Dieser Grundsatz (von dem es Ausnahmen gibt) soll sicherstellen, dass sich das Gericht selbst einen Eindruck von dem Zeugen oder der Zeugin machen kann und die Prozessbeteiligten Fragen stellen können. Möglich ist jedoch – und das passiert auch in diesem Prozess immer wieder –, dass ein sogenannter Vorhalt gemacht wird. Dabei wird einer Zeugin oder einem Zeugen eine frühere Aussage (teilweise) vorgelesen, um zu sehen, ob sich die Person dann wieder erinnern kann. Kommt die Erinnerung zurück und wird das so ausgesagt, kann sich das Urteil darauf stützen, allein auf den Vorhalt an sich jedoch nicht. Praktisch spielt das in diesem Prozess immer wieder eine Rolle, weil angeklagte Taten teils mehrere Jahre zurückliegen. 

Betroffene Fotografin wird vernommen 

Im Anschluss vernimmt das Gericht eine weitere Betroffene als Zeugin. Die Fotografin nimmt ihre Rechte im Verfahren als Adhäsionsklägerin wahr (was das bedeutet, ist hier nachzulesen). Sie sagt zunächst aus, dass sie Versammlungen des Neonazis schon länger dokumentiert habe, jedoch seit Beginn der Corona-Pandemie intensiver. Auch sie berichtet, wie am Prozesstag zuvor der ebenfalls betroffene Sprecher von Halle gegen Rechts (nachzulesen hier), dass es immer wieder zu Beleidigungen gegen sie gekommen sei. Die Zeugin berichtet auch von Situationen, in denen Teilnehmende der Versammlungen des Neonazis sie bedrängten und versuchten, an der Arbeit zu hindern. Nicht immer habe sie die Aussagen des Neonazis, die Gegenstand der Anklage sind, schon vor Ort gehört. Auf manche sei sie auch erst später aufmerksam gemacht worden oder habe sie selbst gefunden, als sie Videos von den Versammlungen durchgeschaut habe. Die Betroffene sagt aus, dass sie sich nicht mehr im Detail bei jeder Äußerung erinnern könne, wann sie diese das erste Mal wahrgenommen habe. Hierzu fragen sowohl das Gericht als auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft mehrfach nach. 

Hintergrund der Fragen ist, dass Beleidigung (§ 185 StGB) und üble Nachrede (§ 186 StGB) Antragsdelikte sind. Diese Taten werden nur auf Antrag des oder der Geschädigten verfolgt. Die Antragsfrist liegt bei drei Monaten (§ 77b Abs. 1 StGB) und beginnt mit dem Zeitpunkt, ab dem die oder der Geschädigte Kenntnis von der Tat hat (§ 77b Abs. 2 StGB). Dazu weist Nebenklageanwalt Dr. Elberling darauf hin, dass die Rechtsprechung davon ausgehe, dass diese Frist noch nicht laufe, wenn die Tat noch nicht beendet sei. Und genau das sei der Fall, wenn der Täter die beleidigende Aussage beispielsweise in einem Video online stelle, solange das Video online sei und damit wahrnehmbar. 

Gegen die betroffene Fotografin richten sich eine ganze Reihe der im Prozess angeklagten Aussagen des Neonazis. So hatte er immer wieder behauptet, die Fotografin habe ein Kind geschlagen (die Einlassung des Neonazis an Prozesstag eins lässt sich hier nachlesen, die Aussage des im Verfahren am zweiten Tag als Zeugen vernommenen Kinds hier). Die Fotografin sagt aus, dass sie an diesem Tag immer wieder von Teilnehmenden der Versammlung bedrängt worden sei. Sie schildert auch, was auf einem Video zu sehen ist, das an Prozesstag zwei in Augenschein genommen wird. Dort ist zu sehen, wie Teilnehmende der Versammlung des Neonazis versuchen, sie mit einem Transparent abzuschirmen und am Fotografieren zu hindern. Die Polizei habe nur „zögerlich“ eingegriffen, berichtet die Betroffene. Immer wieder sei ein Junge zu ihr herangekommen, der mit einem auf einem Stativ befestigten Smartphone einen Livestream gefilmt habe. An Prozesstag zwei hatte der Junge selbst ausgesagt, dass er die Fotografin „abgefilmt“ habe und dass es im „internen Kreis“ der Versammlung des Neonazis den Namen „Stinke-S.“ für sie gegeben habe (nachzulesen hier). Die Fotografin sagt auch aus, dass sie Polizeikräfte darauf angesprochen habe, dass der Junge immer wieder mit seinem Stativ sehr nah an Beobachter*innen herangekommen sei und diese gefilmt habe. In einer Situation, in der er wieder sehr nah an sie herangekommen sei und ihr das Smartphone mit dem Stativ „ins Gesicht gehalten“ habe, habe sie das Smartphone mit der Hand weggeschoben. Das sei zwar nicht sanft gewesen, habe aber nicht dazu geführt, dass der Junge das Smartphone oder Stativ abbekommen habe. Die Betroffene gibt an, recht sicher ausschließen zu können, dass der Junge mit dem Neonazi Liebich gesprochen habe, bevor dieser lautstark verkündete, sie, die Fotografin, habe ein Kind geschlagen. Kritisch äußert sich die Betroffene über den Einsatz der Polizei an diesem Tag, diese habe sich „sehr tolerant“ gegenüber den Teilnehmenden des Neonazis gezeigt, welche sie bedrängten. Ihre Arbeit diene der Aufklärung über Neonazismus, sagt die Fotografin aus, die seit Jahren extrem rechte Versammlungen dokumentiert. Es läge in der Natur der Sache, dass Neonazis damit ein Problem hätten, so die Betroffene, die auch davon berichtet, seit Jahren Beleidigungen wie der Bezeichnung als „Stinke-S“ ausgesetzt zu sein.

Neonazi Liebich zeigt Nerven, Rechtsrockveranstalter im Publikum 

Die Verteidigerin des Neonazis, Rechtsanwältin Christina Reißmann, stellt der Betroffenen zunächst Fragen, die dem Neonazi gefallen dürften. Ob sie denn auch Porträtaufnahmen mache, will sie von der Zeugin wissen. Ob Liebich denn mal „Kritik“ an ihrer Arbeit geäußert habe, will sie wissen. Der Neonazi ist auch angeklagt, weil er über die Betroffene gesagt hatte, sie sei eine „Antifa-Schläger-Journalistin“ und eine „Gewaltverbrecherin mit Journalistenausweis“. Porträtaufnahmen sind nicht verboten, auch wenn das Neonazis auf Versammlungen gerne behaupten, um die Dokumentation zu erschweren. Vielmehr kommt es auf die Veröffentlichung der Bilder an und dann u.a. auf die Frage, ob die abgebildete Person von besonderer Relevanz ist (etwa wegen ihrer Rolle oder Bekanntheit), oder ob sie sich besonders exponiert hat bei der Versammlung (etwa durch besonders krasse Motive auf einem Schild oder T-Shirt).

Neonazi Liebich scheint der Einsatz von Rechtsanwältin Reißmann jedoch nicht mehr zu genügen. Immer wieder spricht er selbst sichtlich erregt auf die Zeugin ein, als er sein Fragerecht nutzt. Die erkennbaren Versuche von Reißmann, ihn zu stoppen, scheitern. Möglicherweise ist auch bei ihr der Eindruck entstanden, dass sich Liebich vor allem selbst schadet, wenn er im Prozess spricht. Mehrfach beanstandet Nebenklageanwalt Dr. Elberling die Fragen des Neonazis, der von einer „Hammerbande“ schwadroniert und die Zeugin auffordert, zu erklären, warum er ein Neonazi sein solle. Hatte Liebich sich die ersten Prozesstage noch sichtlich bemüht, einen halbwegs seriösen Eindruck zu vermitteln, kann sich nun das Gericht zunehmend unmittelbar einen Eindruck davon machen, wie es ist, wenn der Neonazi in Fahrt kommt. Immer wieder greift es bei seinen Fragen ein. 

Im Publikum beobachtet an diesem Tag auch der Rechtsrockveranstalter und ehemalige JN-Stützpunktleiter Enrico Marx die Verhandlung. Mitte September 2022 hatte das Amtsgericht Merseburg ein Verfahren gegen Marx und Liebich wegen Geringfügigkeit eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) hatte den beiden sowie der damaligen Lebensgefährtin von Liebich vorgeworfen, im August 2021 ein Impfteam in Querfurt angegriffen zu haben. Rechtsanwältin Reißmann hatte die damalige Lebensgefährtin von Liebich vor Gericht vertreten, ihr Kanzleikollege Wölfel den Neonazi Liebich. Auch das Verfahren gegen die damalige Lebensgefährtin von Liebich war, unter der Auflage 500 Euro an die Landeskasse zu zahlen, eingestellt worden, wiewohl das Gericht damals auf Nachfrage mitteilte, „Bei der Angeklagten K. konnte konkret festgestellt werden, dass diese den geschädigten Zeugen getreten hatte.“ 

Weiterlesen: „Nach Angriff auf Impfteam in Querfurt: Gericht stellt Verfahren gegen Neonazis ein“

Ausblick kommende Prozesstage

Auf Anregung der Verteidigerin des Neonazis soll ein weiterer Polizeibeamter als Zeuge geladen werden. Er soll den Polizeieinsatz geleitet haben, als Liebich an der Pauluskirche eine Versammlung abhielt, bei der er Teilnehmende des ebenfalls anwesenden Gegenprotests beleidigt haben soll. Zudem will das Gericht Zeugen zu einem Hausverbot für den Neonazi im Hauptbahnhof vernehmen. Für den kommenden vierten Prozesstag steht zudem an, Videos von angeklagten Äußerungen Liebichs in Augenschein zu nehmen. Die nächsten Prozesstage sind Donnerstag, der 22. Juni und Montag, der 26. Juni 2023 sowie Dienstag, der 4. Juli 2023, jeweils um 9 Uhr.