PROZESSBERICHT TAG ZWEI

Mit dem zweiten Verhandlungstag am 2. Juni 2023 wurde der Prozess gegen den Neonazi Sven Liebich vor dem Amtsgericht Halle (Saale) fortgesetzt. Das Gericht vernahm mehrere von den angeklagten Taten Betroffene sowie einen weiteren Zeugen. In diesem Beitrag wird der zweite Prozesstag zusammengefasst.

Gericht lehnt erneute Nebenklage ab

Noch vor dem zweiten Verhandlungstag lehnt das Gericht die erneut gestellten Anträge auf Zulassung zur Nebenklage von zwei Betroffenen – einer Fotografin und dem Sprecher von Halle gegen Rechts, Valentin Hacken – ab. Beide können jedoch weiterhin als sogenannte Adhäsionskläger*innen ihre Rechte im Verfahren wahrnehmen beziehungsweise durch ihren Rechtsanwalt wahrnehmen lassen (was das bedeutet, ist hier nachzulesen).

Betroffener Radfahrer sagt aus

Die Anklage wirft dem Neonazi Liebich unter anderem einen Fall des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr vor. Er soll einem Fahrradfahrer, der zu diesem Zeitpunkt von der Polizei mit einem Auto verfolgt wurde, einen Schirm in die Speichen seines Rads gesteckt haben, so dass das Rad stoppte und der Fahrer umkippte (zur Einlassung des Neonazis dazu und den Aussagen von Polizeikräften am ersten Prozesstag siehe hier). 

Am zweiten Prozesstag vernimmt das Gericht als Zeugen den betroffenen Fahrradfahrer. Er berichtet, dass er sehr in Eile unterwegs gewesen sei. Er habe Nachtschichten gearbeitet, sein Vater sei wegen einer Herzerkrankung in Halle im Krankenhaus gewesen  und in diesen Tagen seien in seiner Heimat sein Onkel und dessen Kinder gestorben. Er könne sich an vieles aus dieser Zeit (April 2021) nicht mehr genau erinnern. Der Betroffene spricht zwar Deutsch, hat aber erkennbar immer wieder Schwierigkeiten bei der Verständigung, da es sich nicht um seine Muttersprache handelt. Zunächst scheint er auch zu befürchten, in eigener Sache vernommen zu werden, bis das Gericht ihm ausdrücklich erklärt, dass er nur als Zeuge geladen und nicht angeklagt ist.

Übereinstimmend mit den Aussagen der Polizeikräfte gibt er an, vor der Polizei weggefahren zu sein. Warum die Polizei ihn habe anhalten wollen, kann der Zeuge nicht mehr genau sagen. Wahrscheinlich, weil er ein Handy benutzt habe, als er mit dem Rad fuhr. Der Betroffene gibt an, ein Mann habe ihm eine Stange in den Reifen gesteckt. Ob er vom Rad geflogen ist, wie er es damals bei der Polizei angegeben hat und wie es auch der Neonazi in einem Post danach schrieb, kann sich der Betroffene im Gericht nicht mehr erinnern. Das Gericht verzichtet auf Grund der Erinnerungslücken auf eine weitere Befragung mit einem Dolmetscher oder einer Dolmetscherin. 

Neonazi inszeniert sich vermeintlich reuig

Das Ende der Aussage des Betroffenen nutzt der angeklagte Neonazi für eine Selbstinszenierung. Er geht auf den Betroffenen zu und legt ihm einen 50-Euro-Schein hin. Er habe ihm, dem Betroffenen, keinen Schaden zufügen wollen, behauptet der Neonazi. Nach der Tat schrieb er noch online: „Ich ihm sofort meinen Schirm zwischen die Speichen gesteckt, der krachte, Kette flog raus, der Typ vom Fahrrad. War so n Salafisten-Typ mit fusseligem Bart nur unterhalb der Oberlippe. Also Araber.“ Der Betroffene nimmt das Geld nicht an. Ob das Gericht dem Neonazi die Inszenierung abnimmt, bleibt abzuwarten.

Liebich behauptete Angriff auf ein Kind, das wird als Zeuge vernommen

In einer Reihe von Fällen ist der Neonazi angeklagt, weil er über eine Fotografin behauptet hatte, diese habe ein Kind geschlagen. Das Gericht vernimmt am zweiten Prozesstag den zum behaupteten Tatzeitpunkt elfjährigen Jungen als Zeugen. Er erscheint vor Gericht in Begleitung seines Vaters F.D., welcher sich immer wieder in die Aussage einmischt und vom Gericht darauf hingewiesen wird, dass er selbst nicht Zeuge sei.

Der Junge gibt an, im Mai 2020 auf dem Marktplatz in Halle (Saale) mit einem Smartphone, befestigt auf einem Gimbal (Stativ), die Versammlung des Neonazis Sven Liebich gefilmt zu haben. Dort habe er auch die Fotografin gesehen, sei zu ihr hingegangen und habe sie abgefilmt. Dabei habe sie ihn geschlagen. Auf Nachfrage gibt der Zeuge an, die Fotografin habe gegen den Gimbal geschlagen. Er habe weinen müssen, sagt der Zeuge und dann sei er zu Neonazi Liebich gegangen und habe ihm den Vorfall geschildert. Weiter gefilmt habe er danach nicht, der Gimbal sei ja kaputt gegangen. Die Fotografin habe er schon gekannt, sie sei im „internen Kreis“ immer „Stinke-S.“ genannt worden. Der interne Kreis seien alle gewesen, die „immer so da waren“, also sein Vater, der Neonazi und andere Teilnehmende der Versammlungen des Neonazis. 

Im Anschluss nimmt das Gericht das von dem Zeugen gefilmte Video in Augenschein. Dort sieht man, wie sich die Kamera auf die Fotografin zubewegt, eine Handbewegung, dann wackelt das Bild, die Kamera filmt den Boden. Danach wird wieder die Versammlung gefilmt, die Kamera bewegt sich wieder durch den Versammlungsraum, etwas später spricht der Neonazi Liebich über einen Angriff auf den Jungen. Nebenklageanwalt Dr. Elberling führt in seiner Stellungnahme dazu aus, dass erkennbar würde, dass der Zeuge nach dem Vorfall nicht wie geschildert aufgehört habe zu filmen. Und dass auch nicht zu sehen sei, dass er mit dem Neonazi Liebich gesprochen habe, bevor der in einem Redebeitrag behauptete, eben habe eine von ihm namentlich benannte Fotografin einen Jungen geschlagen. Auch sei nicht zu erkennen, dass der Junge geschlagen worden sei, sondern eine seitliche Handbewegung gegen den Gimbal, auf welchem das filmende Smartphone befestigt war.

Insbesondere der Vater des Jungen, F.D., war damals auf den Versammlungen des Neonazis Liebich sehr präsent. Oft in T-Shirts in mit antisemitischen Motiven beleidigte und bedrängte er Beobachter*innen, Journalist*innen und Gegenprotest. Wegen der Beleidigungen stand er auch in der Vergangenheit in Halle (Saale) vor Gericht und wurde verurteilt. Ein Video aus Berlin von 2020 zeigt, wie sein Sohn einem Kamerateam des ZDF den Mittelfinger zeigt, die Kamera mit der Hand abschirmt, während der Vater das Kamerateam verbal und körperlich angeht. Beide waren damals als Begleitung für den Neonazi Liebich nach Berlin gereist.

Weiterlesen: „Angriffe auf Presseteam durch Liebichs Fans“

Betroffener Sprecher von Halle gegen Rechts sagt aus

Als zweiten Betroffenen vernimmt das Gericht an diesem Tag Valentin Hacken, Sprecher von Halle gegen Rechts. Ihn betreffen mehrere als Beleidigung sowie in einem Falls als Verleumdung angeklagte Äußerungen des Neonazis. In seiner Aussage geht er zunächst auf seine journalistische Arbeit und sein Engagement bei Halle gegen Rechts ein. Nichts daran sei „ominös“, wie es der Angeklagte in seiner Einlassung nahegelegt habe. Im Gegenteil berichte er unter Angabe seines Klarnamens, ob bei Twitter oder in Artikeln oder Radiobeiträgen. Der Podcast, den er gemeinsam mit Christina Brinkmann für Radio Corax und Halle gegen Rechts zum Prozess gegen den Attentäter vom 9. Oktober 2019 aufgenommen habe, sei u.a. für den GRIMME ONLINE AWARD nominiert worden. Auch die Arbeit des Bündnisses werde über die Stadt hinaus wahrgenommen, immer wieder sei das Bündnis auch Gesprächspartnerin für Bundes- und Landespolitiker*innen gewesen. Mit dem Angeklagten setze er sich seit Ende des Jahres 2015 auseinander. Im Jahr 2016 sei er das erste Mal juristisch gegen ihn vorgegangen. Seit Jahren sei er Beleidigungen, Verleumdungen und Hetze des Neonazis ausgesetzt. Als er eine ganze Reihe von Beispielen teils auch krass sexualisierter Beleidigungen aufzählt, ist Lachen aus dem Teil des Gerichtssaals zu hören, in dem Unterstützer*innen des Neonazis sitzen. Sie werden durch das Gericht ermahnt.

Die Verteidigerin des Neonazis versucht zunächst zu intervenieren, als Hacken über die Folgen der jahrelangen Beleidigungen durch Liebich spricht. Der Zeuge sei hier nicht als Sachverständiger geladen. Doch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft wie auch das Gericht weisen darauf hin, dass Aussagen zu den Folgen der Tat für die Beweisaufnahme erheblich seien, ebenso solche zu den Umständen der Tat. Hacken schildert, wie der Neonazi auf Kundgebungen immer wieder für Stimmung bei seinen Anhänger*innen sorge, indem er auf Presse, Beobachter*innen und politische Gegner*innen hinweise. Das seien die Momente, mit denen er seine Teilnehmenden bei der Stange halte. Gleichzeitig führe das seit Jahren dazu, dass anschließend extrem Rechte den Betroffenen und andere beleidigten und bedrängten. Er berichtet davon, angespuckt und geschlagen worden zu sein. Es sei kaum noch zu überblicken, wie oft er durch den Neonazi schon beleidigt worden sei. Die Aussagen beschreibt der Betroffene als herabwürdigend und verletzend. Immer wieder spreche der Neonazi auch im Detail über von ihm ausgedachte sexuelle Handlungen des Betroffenen, das sei widerlich. Hacken äußert auch Kritik an der Justiz, die in der Vergangenheit solche Taten nicht ausreichend verfolgt habe.

Im Detail wird er zu Beleidigungen des Neonazis gegen Teilnehmende eines Gegenprotests von Halle gegen Rechts an der Pauluskirche in Halle (Saale) vernommen. Neonazi Sven Liebich hatte sich am ersten Prozesstag so eingelassen, dass er hier angeblich in „Todesangst“ gesprochen habe (nachzulesen hier). Hacken widerspricht dem deutlich. Der Neonazi habe im Gegenteil betont, was für ein „geiles Publikum“ er damals gehabt habe und sich und seine Lautsprecherbox immer wieder so gedreht, dass ihn möglichst alle Teile des Gegenprotest hören konnten, den er mit zig Beleidigungen überzog. Für Hacken habe sich danach vielmehr die Frage gestellt, wie sinnvoll ein solcher Gegenprotest sei, wenn er den Effekt habe, dass der Neonazi sich begeistert zeige.

Auf Nachfrage von Nebenklageanwalt Dr. Elberling berichtet Hacken zudem, dass das Landeskriminalamt ihm geraten habe, seine Wohnanschrift zu seinem eigenen Schutz nicht mehr anzugeben, und dass die Polizei ihm mitgeteilt habe, dass seit geraumer Zeit bei der Polizei im Lage- und Führungszentrum ein Hinweis eingeblendet werde, wenn er den Notruf wähle, damit den Beamt*innen schneller notwendige Informationen zu seiner Gefährdung vorliegen.

Nebenklägerin sagt aus und berichtet von Beleidigungen

Als letzte Zeugin vernimmt das Gericht an diesem Tag eine weitere Betroffene der angeklagten Taten des Neonazis, die ihre Rechte im Verfahren auch als Nebenklägerin wahrnimmt. Sie berichtet, wie sie im Sommer 2020 privat auf dem Marktplatz in Halle (Saale) unterwegs gewesen sei, als der Neonazi sie dort zufällig getroffen habe. Er habe sie gefilmt, sei ihr nachgegangen und habe sie beleidigt. Warum dieser Vorfall nicht Teil des Verfahrens sei, könne sie nicht verstehen. Ein paar Wochen später sei sie darauf aufmerksam gemacht worden, dass in dem Telegram-Kanal des Neonazis ein Bild veröffentlicht worden sei, das sie und ihren damaligen Lebensgefährten gezeigt habe. Unter dem Bild sei ihr Name geschrieben gewesen, auf dem Bild ihr Gesicht bearbeitet und bei ihrem damaligen Lebensgefährten eine Sprechblase mit einem sexualisierten Inhalt eingefügt worden. Die Nebenklägerin berichtet von einer weiteren Begegnung mit dem Angeklagten in Halle (Saale), etwa einen Monat später. Mit seinem Auto sei er an ihr vorbeigefahren, seine damalige Freundin habe aus dem Auto Fotos von der Nebenklägerin aufgenommen. Wenig später sei erneut ein Bild der Nebenklägerin im Telegram-Kanal des Neonazis aufgetaucht. Das Gericht nimmt beide Bilder in Augenschein, zu dem zweiten Bild war damals im Telegram-Kanal der abgekürzte Name der Nebenklägerin zu lesen sowie zu anderen Abgebildeten, „Die Namen der 2 Bübchen der Staats-Antifa hätte ich gerne per PN an @SvensWelt.“ (PN meint „Privatnachricht“, @SvensWelt ist der Telegram-Kanal). 

Die Nebenklägerin schildert, dass der Neonazi sie immer und immer wieder beleidigt habe. „Eigentlich bin ich es gewohnt, dass wenn er mich sieht, er mich beleidigt.“ Erst im Zusammenhang mit dem aktuellen Prozess habe sich das geändert. „Das ging also schon über Jahre, diese Anfeindungen“, sagt die Betroffene aus. Auch aus dem Umfeld des Neonazis sei sie schon beleidigt worden, sie sei auch schon angegriffen worden und in einem Fall sogar durch die Stadt verfolgt worden, von Personen aus dem Kreis des Neonazis. Nach den Veröffentlichungen im Telegram-Kanal des Neonazis hätten plötzlich Menschen ihren Namen gekannt, die ihn bisher nicht wussten. Die ständigen Beleidigungen und Erwähnungen hätten dazu geführt, dass sie angefangen habe, den Marktplatz in Halle (Saale) zu meiden. Die Nebenklägerin gibt auf Nachfrage an, dass sie davon ausgehe, dass der Neonazi sie auch deswegen in den Fokus genommen habe, weil sie gegen die extreme Rechte politisch aktiv sei.

Die Veröffentlichungen sind nicht als Beleidigungen, sondern als Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz angeklagt. In § 22 KunstUrhG ist geregelt, das Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten veröffentlicht werden dürfen (es sei denn, es greift eine Ausnahme aus §§ 23, 34 KunstUrhG), die Strafnorm findet sich in § 33 Abs. 1 KunstUrhG.

Zusätzliche Verhandlungstage

Das Gericht setzt zusätzlich zu dem Verhandlungstag am Montag, den 5. Juni und Donnerstag, den 22. Juni 2023 auch noch den Dienstag, 4. Juli und Montag, den 26. Juni 2023 als Verhandlungstage fest, alle jeweils mit Beginn 9 Uhr.