ZWISCHENSTAND BERUFUNGSPROZESS

Im Berufungsprozess vor dem Landgericht Halle (Saale) ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Auch die Schlussvorträge wurden gehalten. Die Staatsanwaltschaft sieht den Neonazi Sven Liebich in allen Punkten schuldig und fordert zwei Jahre Haft ohne Bewährung, die Verteidigung plädierte auf Freispruch in allen Punkten. Bevor das Gericht sich zur Beratung und anschließenden Verkündung des Urteils zurückzieht, hat derzeit der Angeklagte das letzte Wort. Hierfür hat das Gericht inzwischen zusätzliche Verhandlungstage angesetzt. 

Worum es im Verfahren geht, was das Rechtsmittel der Berufung ist und was in der ersten Instanz vor dem Amtsgericht Halle (Saale) entschieden wurde, haben wir hier erklärt. 

Beweisaufnahme wurde abgeschlossen

In der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Halle (Saale) wurde am fünften Tag des Prozesses die Beweisaufnahme geschlossen. Zuvor hatte sich das Gericht eingehend mit allen Taten befasst, wegen derer der Neonazi Sven Liebich in der ersten Instanz verurteilt worden war. Wesentliche Abweichungen zur Beweisaufnahme in der ersten Instanz sind dabei nicht zu erkennen. Die Mehrzahl der Taten wurde durch den Angeklagten eingeräumt, wobei er und seine Verteidigung bei diesen – wie bei allen anderen angeklagten Taten – bestreiten, dass sie einen Straftatbestand verwirklicht haben. Oder einfacher formuliert: Bei einer Reihe Taten hat der Angeklagte angegeben, dass er sie begangen hat. Allerdings sagt er, dass das, was er getan hat, gar nicht strafbar sei. 

Was der Neonazi Sven Liebich insbesondere bestreitet, ist, Betreiber des Telegram-Kanals “Sven Liebich Kanal” und des YouTube-Kanals “Der echte Sven Liebich” gewesen zu sein. Entsprechend habe er dort auch keine (strafbaren) Beiträge hochgeladen. Tatsächlich hat auch im Berufungsprozess, wie in der ersten Instanz, ein Zeuge ausgesagt, dass er den YouTube-Kanal betrieben habe – und nicht der Angeklagte, der denselben Namen trägt wie der Kanal damals. Die Aussage ist jedoch wenig glaubhaft. Der YouTube-Kanal antwortete immer wieder auf Kommentare unter Videos aus einer Ich-Perspektive, die unschwer als die des Neonazis zu erkennen ist, zeigt Videos, in denen sich der Angeklagte selbst filmt und testet, ob Livestreams funktionieren. Wer Betreiber des Kanals war, ist auch wichtig für die Frage von Strafantragsfristen und ob diese eingehalten wurden. 

Schlussvorträge von Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Anwalt der Betroffenen

Während die Verteidigung in allen Punkten auf Freispruch plädierte und u.a. auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit verwies, sieht die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) nach Abschluss der Beweisaufnahme alle Taten als erwiesen an und forderte zwei Jahre Haft ohne Bewährung. Damit bleibt sie bei ihrer Forderung aus der ersten Instanz. Das Amtsgericht Halle (Saale) war dem damals nicht gefolgt und hatte, unter Einbeziehung eines Urteils des Amtsgerichts Tiergarten und eines weiteren Urteils des Amtsgerichts Halle (Saale) eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung verhängt. Anders als in der ersten Instanz wurde die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Halle (Saale) durch Staatsanwalt Cernota vertreten. Dr. Elberling verwies als Anwalt der Neben- und Adhäsionskläger:innen darauf, dass von siebzehn Taten, die Gegenstand des Verfahrens sind, zunächst bei zwölf die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) eingestellt worden waren. Die Behörde steht seit Jahren in der Kritik, Verfahren gegen den Neonazi Sven Liebich teils mit absurden Begründungen einzustellen (siehe dazu auch hier). Ausdrücklich von der Kritik ausgenommen war dabei das Auftreten des Sitzungsvertreters der Behörde im laufenden Verfahren. Das sei so, wie man es sich von einer Staatsanwaltschaft wünschen dürfe. Weitgehend gescheitert war dagegen die Verteidigung mit ihren Anträgen im Verfahren. Sowohl ein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin als auch eine Reihe Beweisanträge wurden abgelehnt. 

In seinem Schlussvortrag betonte Dr. Elberling für die Betroffenen, dass die angeklagten Taten nur einen kleinen Ausschnitt der Aussagen zeigten, mit denen der Neonazi Menschen seit Jahren überzieht. “Das ist der Versuch, jemanden kaputt zu machen”, betonte er zu einer der angeklagten Äußerungen. Er verwies auch auf die Aussagen der Betroffenen, dass sie nach Äußerungen des Neonazis immer wieder durch dessen Anhänger:innen angegangen wurden. Der Angeklagte wisse ganz genau, was er getan habe und wolle davon kein Stück abrücken und habe sich selbst unter dem Eindruck vorheriger Verurteilungen weiter strafbar gemacht, so Dr. Elberling. Entsprechend komme eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung auch nicht in Betracht. 

Der Neonazi inszeniert sich als Opfer

Neonazi Sven Liebich hat schon bisher im Verfahren angegeben, dass er nicht in Haft wolle. Er müsse seine pflegebedürftige Mutter versorgen. Immer wieder versuchte er im Verfahren, sich als Opfer zu inszenieren. Er habe außerdem Angst gehabt vor linksextremen Angriffen der “Hammerbande”. Seine Verteidigerin Christina Reinhart führte dazu in ihrem Schlussvortrag aus, dass Menschen im bürgerlichen Spektrum diese Angst vielleicht nicht verstehen könnten, dass sie aber bei Personen in rechten Bewegungen vorhanden sei. Dazu verwies sie ausgerechnet auf die militante Neonazigruppierung “Knockout51” (deren Mitglieder zum Zeitpunkt des Schlussvortrags vor Gericht standen, angeklagt durch den Generalbundesanwalt). Außerdem gab der Neonazi an, keine Demonstrationen mehr durchzuführen, weil er angeblich deren Sinnlosigkeit eingesehen habe. Es braucht wenig Kenntnis der Person Sven Liebich, um darin eine Schutzbehauptung zu erkennen. 

Das letzte Wort des Angeklagten

Mit dem Ende der Schlussvorträge steht nun das letzte Wort des Angeklagten an. Danach zieht sich das Gericht zur Beratung zurück, bevor es sein Urteil verkünden wird. Wann es dazu kommt, ist aktuell noch nicht abzusehen. Denn der Neonazi kündigte an, etwa dreizehn Stunden Texte verlesen zu wollen und davor noch einige Stunden frei zu sprechen. Die Strafprozessordnung beschränkt das letzte Wort nicht zeitlich, jedoch muss der Angeklagte zur Sache sprechen und darf nicht zu weit abschweifen oder sich endlos wiederholen. In den ersten Stunden seines letzten Worts warf der Neonazi dem Gericht vor, dass das Urteil vermutlich schon feststehe, er habe den Eindruck eines abgekarteten Spiels. 

Das Gericht hat inzwischen Verhandlungstage bis Anfang August festgesetzt. Der redselige Angeklagte kann in diesen Tagen weiter aus seinem Leben erzählen, versuchen, sich vor weitgehend leeren Zuschauer:innenplätzen als Opfer zu inszenieren, weitere Namen aus seiner Zeit bei Blood & Honour nennen oder neue Themen eröffnen. Bislang drängt sich dabei der Eindruck auf, der alle seine Einlassungen im Prozess begleitet: Er schadet sich damit vor allem selbst. 

Hinweis: Zur solidarischen Prozessbegleitung während des letzten Worts wird explizit nicht aufgerufen. Es besteht keine Notwendigkeit, dem Neonazi zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen. Sobald feststeht, wann das Urteil verkündet werden wird, informieren wir hier.